Wir schreiben Mittwochabend und ich muss sagen, ich stehe noch etwas unter Schock. Vollgepumpt mit Adrenalin sitze ich am Schreibtisch und notiere diese Wörter. Nach Schreiben ist mir eigentlich gar nicht so zumute. Untergangsstimmung herrscht hier. Und das hat einen Grund. Und ich will betonen, es hat auch echt nur EINEN Grund. Und der ist gewaltig. Denn der ist Elke.
Ich habe heute den menschlichen Untergang gesehen. Elke. Ich habe in das Tor zu einer anderen Welt geblickt – eine unangenehme Welt. Elke. Ich konnte spüren, warum die Dinos mal ausgestorben sind und weshalb das auch uns passieren kann. Elke. Ich weiß in diesem Moment, wieso es eine Vormittags- und eine Nachmittags-Schicht in der Backwarenverkäuferinnen und -Verkäufer-Welt gibt. Weil nachmittags keiner frühstückt, deswegen keiner Brötchen kauft und kein Kunde kommt und dann eben Elke dasitzt. Elke. Einmal Leberschaden und Kurzhaarschnitt, ey.
Ok, ich will mich zügeln und zu einer etwas objektiveren Schilderung kommen:
Elke. Extrem lustlos und kein Engagement. Ohne ey. So.
16:30 heute Nachmittag. Ich dachte ich hol‘ mal ein paar Brötchen fürs Abendessen. Gibt so Leute, die gehen auch noch nachmittags zum Bäcker, trotz Nachmittagsschicht dort. Fröhlich pfeifend betrete ich die Bäckerei am Ein- oder Ausgang eines Supermarkts und stelle mich hoffnungsfroh an die Bedientheke. Ich scanne aufmerksam die Auslage und das Brotregal (ja, das ist bestimmt der Fachterminus!) und mache gedanklich meine Bestellung fertig. Und wäre dann jetzt auch soweit diese Bestellung zu verbalisieren.
„Ich hab‘ se nich jesehen“, murmelt eine auf einem Klappstuhl sitzenden Person mit hängendem Kopf, Gesicht im Smartphone, aus der letzten Ecke der Bäckereinische. Elke. So steht es auf dem Namensschild. „Komme gleich.“, fügt sie hintenan. „Kein Problem, ich hab‘ Zeit.“, erwidere ich bemüht defensiv um die Wogen präventiv zu glätten. Sie candy-crushed schnell Level 2 fertig und schlurft dann in meine Richtung. Als sie da so vor mir steht, sehe ich das volle Ausmaß des menschlichen Untergangs:
Wasserstoffblondierte Kurzhaarfrisur, sowohl Färbung als auch Schnitt sind selbstgemacht, hängende Mimik mit dem entsetzten Blick, warum ich denn bitte was kaufen will und ein Bäckereipoloshirt vollgeschmiert mit Leberwurstflecken. In einer Metzgerei wäre das feinste, suggestive Vertriebspraktik, aber hier und so? Elke... Ich kann es aufgrund der Auslage nicht sehen, aber ich würde mich nicht wundern, wenn sie ihre Schuhe verkehrtherum trägt. Elke.
Als sie so vor mir steht, erheben sich ihre Stirnfalten, die ihre Augenbrauen nach sich zu ziehen scheinen, welche letztlich mühsam ihre Augenlieder auf Halbmast hieven. Die Mundwinkel erheben sich nicht. Warum auch? „Was darf’s sein?“ lallt sie mir entgegen.
„Die gut gelaunte Morgenschicht!!“, denke ich mir. Ok, da müssen wir jetzt beide durch.
Und wir gingen beide dadurch. Jetzt sitze ich hier zitternd dieser Erfahrung wegen und verarbeite diese Ausstrahlung von so wenig Bock aufs Leben.
Die Frage, die ich mir jetzt stelle, ist nicht, wer oder was die Dame so zugerichtet hat, wieso sie dort arbeitet, wenn sie nicht dort arbeiten will und wer sie eigentlich eingestellt hat? Ich frage mich vielmehr, warum irritiert mich das so sehr, dass sie ist, wie sie ist? Und ich weiß warum. Weil sie nicht so ist, wie ich denke, wie sie ist.
Ich denke in Kategorien, in Schubladen. Ich denke, wir alle tun das. Manche mehr, manche etwas weniger. Vom ersten Anblick hab‘ ich Elke in eine Schublade gesteckt, habe abgeglichen, dass ihre Schublade nicht zu meiner Schublade passt und dann innerlich beschlossen, dass ihre Schublade blöd ist. Fertig.
Das passiert in Millisekunden und wir können uns kaum dagegen wehren. Das nennt sich Sozialisation und in dieser haben wir gelernt in gewissen Mustern zu denken, uns selbst, unser Handeln, unser Aussehen in eine Schublade zu packen und das der anderen ebenso. Denn damit kann man sich die Welt erklären, Dinge analysieren, vergleichen, Neid erzeugen, Ziele verfolgen, Potenziale bestimmen und so weiter. Darüber mag ich nicht urteilen, ob das gut oder schlecht ist oder ob man das überhaupt verhindern kann, dass man Eindrücke eben kognitiv verordnet. Aber ich möchte gerne dazu anregen, einfach mal bei sich selbst zu entdecken, wann man die Schubladen aufmacht und jemand Fremdes dort einsortiert. Ob der will oder nicht, ob der überhaupt darein gehört.
Wir sehen die Welt so, wie wir sie uns erklären können. Nämlich auf Basis unserer Schubladen und unserer individuellen Einsortiererei. Soweit, so gut. Aber heißt das dann automatisch, dass das auch so richtig ist, was wir einsortieren? Ich möchte es zumindest bezweifeln und dazu anregen, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, der Interpretation und dem eigenen Ablagesystem im Kopf allerdings nicht die Alleinherrschaft zu überlassen. Geprägt von Erfahrungen, einzelnen Situationen und den Meinungsbildern von Menschen mit denen wir aufgewachsen sind, bauten wir unsere Schubladen. Und mit denen ziehen wir los und sortieren fleißig ein. Nun ist es allerdings immer eine sehr subjektive Einsortiererei und ich freue mich immer, wenn ich im Nachhinein eines besseren belehrt wurde und mein Ablagesystem mal zum Narren gehalten wurde. Warum? Weil es zeigt, dass die Welt bunt ist und aus ganz vielen verschiedenen Perspektiven besteht. Das ist schön.
Es gibt dazu eine tolle Kurzgeschichte (Herkunft unbekannt):
Im Fach Sozialwissenschaften hielt unser Professor heute ein schwarzes Buch hoch und sagte:
"Dieses Buch ist rot!".
Die ganze Klasse protestierte einstimmig und rief: "Nein!".
Der Professor seinerseits beharrte darauf und sagte: "Doch, ist es!".
Und wir wiederholten: "Das ist nicht richtig!".
Er drehte das Buch um - und die Rückseite war rot!
Der Professor blickte in unsere beschämten Gesichter und meinte:
"Sage niemals jemanden, er liege falsch, solange du die Dinge nicht aus seiner Perspektive gesehen hast!".
Vielleicht spielte Elke das Leben übel zu und sie war nicht lustlos, sondern sie war nur müde aufgrund vieler solcher Aushilfsjobs. Vielleicht candy-crushed sie in der Ecke gar nicht, sondern sucht verzweifelt Stellenanzeigen. Vielleicht sitzt sie in der letzten Ecke der Bäckerei, weil ihr Selbstvertrauen aufgrund ihrer selbst geschnittenen Haare total im Keller ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Ich habe Elke in eine Schublade gepackt, die keine nette Schublade ist. Und das, obwohl ich Elkes Perspektive nicht kenne. Dass das passiert ist beinahe normal - ob man das gut finden mag oder nicht. Jedoch ist es meines Erachtens enorm wichtig und viel bedeutender, sich selbst über diesen kognitiven Prozess bewusst zu sein! Denn nur dann kann ich Elke auch im Zweifel wieder aus der Schublade herausholen!
Wen hast du schonmal falsch einsortiert? Sind alle Punks asozial? Sind alle Mathematiker humorlos? Sind alle Menschen, die zum Schönheitschirurgen laufen, oberflächlich? Gibt es auch coole Physiker?
In welcher Schublade ich selbst wohl bei den meisten lande...? Ob ich schonmal falsch einsortiert wurde?
Ist das ein Konzept für Dich? Bin gespannt!