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Entschleunigung und Entspannung | Die Kunst des Nichtstuns | mabreko

Matthias Bremmekamp • 25. Mai 2021

Die verpasste Bahn: Hindernis auf dem schnellsten Weg nach Hause oder universelles Angebot zum Rasten?

Bahnhaltestelle mit Bänken zum Sitzen und Warten.

"Es ist wieder die Bahn ausgefallen und ich musste 10 Minuten länger warten. Nach der Arbeit. Ich will doch nach Hause. Auf dem schnellsten Weg! Nervig."


"Wenn ich die Schlange beim Bäcker sehe, habe ich schon morgens keine Lust mehr auf Frühstücken. Das dauert ja ewig und ich kann gleich zum Mittagessen übergehen."


"Warum mache ich extra einen Termin beim Zahnarzt, wenn ich dann wieder für 25 Minuten ins Wartezimmer geschickt werde? Warum heißt der Raum eigentlich so und warum hat noch keiner mit Graffiti ein Phallussymbol auf die Tür des Raumes gesprüht? Was für ein dämlicher Raum!"


Tja, wir alle haben unsere liebe Mühe mit dem Warten und wir alle kennen diese oben beschriebenen Situationen. Das Warten nervt im Allgemeinen und es stresst uns. Aber woran liegt das eigentlich, dass wir das Warten als etwas Schlechtes empfinden? Da denkt ja auch irgendwie nie mal einer so wirklich drüber nach und schreibt dazu mal etwas auf. Automatisch verurteilen wir tagtäglich das Warten-Müssen, ohne es jemals in Frage gestellt zu haben. Das ist für uns eine absolute Selbstverständlichkeit - Warten ist blöd! Punkt.


Umso genauer ich mir dieses Dilemma anschaue, desto sicherer bin ich mir, dass ich der Sache auf den Grund gehen will, um für mich mal etwas dran zu ändern. Also: Wo liegt der Kern der ganzen Angelegenheit? Warum ist Warten per se doof?


Ich denke, dem ist so, weil wir das Warten als die Anreihung von sinnlosen Momenten empfinden. Wir haben dann das Gefühl, wir verlieren Zeit. Ich will mal schnell beim Internetanbieter anrufen, um zu fragen, ob er noch allen Tassen im Schrank hat, dass er Sonntagabends um 8 Uhr - zur Primetime (!) - mir meinen Saft abdreht und ich meinen liebsten Klassiker nicht streamen kann. Doch "schnell" ist gut, jetzt dudelt die Warteschleifenmusik und mir wird gesagt, dass ich 8 Minuten meines Lebens verliere.

Jeder kennt es und wir empfinden diese 8 Minuten in der Warteschleife als absolut verlorene Zeit. Das sind sinnlose Momente unseres Lebens. Jede Sekunde ist leer, ohne Inhalt, ohne gewinnbringendes Ziel. Ich will jetzt handeln, etwas erreichen, ich will, dass etwas passiert, nicht stillstehen, ich will kontrollieren, dass es genau jetzt passiert.


Naja, aber ist es sinnlos nichts zu tun?


In Vorbereitung auf diesen Blogeintrag bin ich auch auf den Buddhismus gestoßen, der das Nichtstun kultiviert:

„Nichtstun kann entweder reine Zeitverschwendung oder eine Form der Kunst sein.“ Stimmt! Und bei mir ist es derzeit noch häufig ersteres. Und damit bin ich nicht zufrieden. Also widmen wir uns der Kunst des Nichtstuns:


Der Geist, dein Gehirn, dein Bewusstsein will immer beschäftigt sein. Deswegen ballern wir tagtäglich auch viele Informationen und Medien in den Kopf, damit wir nicht nichts tun müssen. Der Geist will Beschäftigung und gaukelt uns vor, nicht zur Ruhe kommen zu müssen, sondern unendlich viel leisten, strukturieren, ordnen, bewerten, planen, vergleichen zu müssen und dieser Aufgabe auch stets gewachsen zu sein. Und wenn es jetzt in diesem Moment keinen Anlass zu all dem gibt, dann sucht er sich die Beschäftigung in der Zukunft mit Sorgen machen, Pläne schmieden, Befürchtungen hegen oder in der Vergangenheit, mit Dinge bereuen, sich schämen und dem besten Freund des Geistes, dem Konjunktiv.: "Hätte ich doch gestern nicht, dann wäre ich jetzt nicht…", und so weiter.


Dabei sind Pausen und das Beruhigen des Geistes sehr wichtig! Der Geist sieht das anders, aber er kann eben nicht 24/7 Hochleistung erbringen. Also muss jetzt ein Perspektivwechsel her, um das Pausen machen als etwas Gutes zu verstehen!


Jede von außen uns geschenkte Minute kann ebenso als wohltuende Pause des Geistes wahrgenommen werden: Die Kunst des Nichtstuns. Jedes Warten kann bewusst genutzt werden, um innerlich zur Ruhe zu kommen: Die Kunst des Nichtstuns. Jedes im Wartezimmer Platz nehmen kann als ein Geschenk angenommen werden, mit mir alleine zu sein. Mal nichts zu müssen. Jede Minute in der Warteschleife kann als Freibrief von Ansprüchen, Groll und Stress kultiviert werden: Die Kunst des Nichtstuns.


Warten zu müssen ist keine Bestrafung des Universums für dich. Niemand will dich ärgern und dein Leben verlangsamen. Niemand will dir Zeit wegnehmen. Jemand will dir eine Pause gönnen. Jemand gibt auf dich acht. Jemand bietet dir einen Stuhl an, um Platz zu nehmen. Jemand bietet dir Entspannungsmusik übers Telefon, um zur Ruhe zu kommen. Jemand sieht, dass du Zeit investieren solltest, um dich um dein Inneres zu kümmern. Um zu rasten. Um die Gedanken ruhen zu lassen. Jemand weiß, dass Nichtstun eine Kunst ist und dass das Glück des Wartens eine Frage der Perspektive ist. Ist die verpasste Bahn nach Feierabend das universelle Ärgernis, dass du 10 Minuten später zu Hause ankommst? Oder ist es ein universelles Angebot, dass du am Bahnsteig bewusst 10 Minuten ausatmen kannst, um den Stress und die Gedanken des Alltags bewusst an der Haltestelle zu lassen, um sie nicht mit nach Hause zu schleppen?


Warten ist nicht per se schlecht. Warten ist das, was du daraus machst. Denn, ob etwas schneller passiert oder langsamer, ob es jetzt passiert, oder gleich, es ist nie deine Zeit. Es ist Zeit und deine Bewertung der Momente. Willst du im Wartezimmer Platz nehmen und jeden Moment der Zeit dort verfluchen? Oder willst du der Person hinter dem Tresen in der Arztpraxis ein Lächeln schenken und ihr danken, dass sie dir einen Stuhl und eine Auszeit anbietet? Wie bewertest du deine Momente? Aus welcher Perspektive urteilst du über dich und die Zeit?


Kultivierst du das Warten als etwas Positives in deinem Leben? Ich werde es versuchen. Ich möchte mir die Angebote, die an mich herangetragen werden, auch als solche wahrnehmen. Dann macht auch Warten Sinn! Und das, was uns Sinn gibt, ist selten etwas, das wir selbstverständlich für blöd erachten. Oder?

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